zum International Safe Abortion Day
Dinah Riese: Alicia Baier, Sophie G., Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland nur unter ganz bestimmten, eng definierten Umständen straffrei. Der International Safe Abortion Day am 28. September steht dieses Jahr aber unter dem Motto „Self-Managed Abortion“. Um was geht es da?
Alicia Baier: Es geht darum, Abtreibungen aus genau diesem Kontext zu lösen. Staat, Religion und Patriarchat versuchen seit jeher ihren Einfluss auf das Thema Schwangerschaftsabbruch auszuüben. Das Motto fordert, dass die Kontrolle über den Eingriff in die Hände derer gehört, die unmittelbar davon betroffen sind.
Und was heißt das konkret?
Sophie G.: Der medikamentöse Abbruch ist ein gutes Beispiel dafür, weil er die größte Möglichkeit bietet, self-managed vorzugehen: Alles, was eine ungewollt Schwangere dafür braucht, sind zwei Medikamente: Mifepriston bewirkt eine Beendigung der Schwangerschaft, das bis zu 48 Stunden später eingenommene Misoprostol löst dann die Ausstoßung aus. Nach Aufklärung und Erhalt der Tabletten ist kein weiteres Personal nötig, die schwangere Person kann selbst entscheiden, wo und wann genau sie die Medikamente einnimmt. Sie kann Kontext und Umfeld selbst bestimmen.
Wie ist ein medikamentöser Abbruch medizinisch gegenüber einem operativen Abbruch einzuordnen?
Alicia Baier: Beide Methoden sind sehr sicher. Der operative Abbruch ist eine Sache von zehn Minuten, der medikamentöse zieht sich über mehrere Tage – ist aber trotzdem letztlich schonender, weil gar kein fremdes Gerät in den Uterus eingeführt wird. Viele Betroffene erleben die Blutungen und den Schmerz beim medikamentösen Abbruch außerdem stärker. Für manche ist das ein Argument dagegen, anderen hilft es bei der Verarbeitung.
Bei self-managed abortion geht es ja aber nicht nur darum, den Abbruch möglichst angenehm zu machen, oder?
Alicia Baier: Es geht auch darum, diejenigen, die einen Schwangerschaftsabbruch brauchen, unabhängiger zu machen von medizinischem Personal. Das ist alleine schon deshalb wichtig, weil es in Deutschland immer weniger Ärzt*innen gibt, die bereit sind, Abbrüche durchzuführen.
Sophie G.: Und wenn sie es sind, heißt das nicht immer, dass der Eingriff dann in einer guten Atmosphäre stattfindet. Wir kennen Berichte von Stigmatisierung, Betroffenen wird mehr oder weniger klar vermittelt, dass das Personal ihre Entscheidung nicht akzeptiert. In Deutschland geht es also viel um Empowerment. In manchen anderen Ländern geht es um noch viel mehr – nämlich darum, dass der Zugang zu einer Abtreibung so überhaupt erst möglich wird.
In Ländern, die eine sehr restriktive Gesetzeslage haben?
Sophie G.: Genau. Wer die Tabletten hat, kann sie zuhause nehmen – egal, was das Gesetz sagt. Es kann aber auch sein, dass die Gesetzeslage Abbrüche zwar zulässt, sie de facto aber nicht möglich sind. Etwa wegen geografischer Begebenheiten, oder aber aus sozialen oder ökonomischen Gründen. Oder weil die Stigmatisierung so groß ist.
Damit sind wir schon bei der Arbeit von Women on Web. Was genau machen Sie da, Sophie G.?
Sophie G.: Bei Women on Web schaffen wir Zugang zu Informationen, Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüchen, unabhängig von rechtlichen, finanziellen oder sonstigen Hintergründen. Menschen können uns in 22 Sprachen anschreiben. Wir informieren und vermitteln Kontakt zu lokalen Beratungsangeboten. Die Leute können über unsere Seite aber auch eine Hilfsanfrage stellen. Es folgt eine digitale Beratung durch unsere Kooperationsärzt*innen und dann werden die Tabletten per Post verschickt. Die Einnahme erfolgt dann komplett unter telemedizinischer Betreuung, jeder Schritt wird begleitet.
Und ist der Bedarf groß?
Sophie G.: Ja. Etwa 1,5 Millionen Menschen besuchen monatlich unsere Webseite. Wir haben monatlich rund 1.000 Hilfsanfragen aus der ganzen Welt, 2019 wurden rund 13.000 Pakete verschickt. Die mit Abstand meisten Pakete gehen in zwei Länder: Nach Polen waren es 2019 rund 2.500 Pakete, nach Südkorea sogar 4.000. Außerdem stark vertreten sind Chile, Thailand, Malta und Nordirland. Und dann gibt es Anfragen aus Ländern, in denen der Zugang rechtlich möglich, in der Praxis aber erschwert ist.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Sophie G.: Deutschland. Hier haben wir unseren Hilfsservice erst letztes Jahr geöffnet, vor allem um beurteilen zu können, ob und aus welchen Gründen es in Deutschland hilfesuchende Personen gibt. Von Mai bis Ende 2019 hatten wir dann rund 1200 Hilfsanfragen aus Deutschland. Wir haben jede ungewollt Schwangere explizit auf die rechtliche Situation hingewiesen und ihr gesagt, wo sie vor Ort Hilfe suchen kann. Letztlich wurden trotzdem monatlich rund 20 Pakete verschickt.
Wie kann das in einem Land wie Deutschland sein, Alicia Baier?
Alicia Baier: Viele Menschen in Deutschland denken, wir hätten eine liberale Gesetzeslage. Das ist aber leider nicht so. Im europäischen Vergleich ist das Gesetz hier eher streng und es gibt viele Barrieren. Schwangerschaftsabbrüche sind ein Straftatbestand, sogar die öffentliche Information über die angewandten Methoden ist nach Paragraf 219a Strafgesetzbuch ein Straftatbestand. Zusammen mit dem großen Stigma sorgt das für massive Versorgungslücken, die uns wirklich Sorgen bereiten. Gerade in ländlichen oder christlich geprägten Gebieten gibt es immer weniger Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen. Und darunter sind viele schon im Rentenalter. Was passiert, wenn die aufhören? Von daher überrascht es mich nicht zu hören, dass auch aus Deutschland ungewollt Schwangere Hilfe bei Women on Web suchen – erschreckend ist es aber trotzdem.
Sophie G.: In Ländern, in denen der Zugang zu sicheren Abtreibungen eigentlich möglich ist, fragen wir nach den Gründen für die Hilfsanfrage. Die genauen Erkenntnisse des letzten Jahres werden gerade in einer Studie zusammengefasst. In Deutschland wurde oft genannt, dass die Schwangerschaft und der Abbruch vor dem Partner oder der Familie geheim gehalten werden sollen, wegen fehlender Unterstützung, Angst vor Stigmatisierung oder sogar vor Gewalt. Auch finanzielle Schwierigkeiten spielen eine große Rolle und die schon angesprochene schlechte Versorgungslage: Nicht alle können sich weite Reisen leisten oder bei der Arbeit frei nehmen. Auch unsichere Aufenthaltstitel und für nicht deutsch sprechende Personen schwer zugängliche Informationen spielen da eine Rolle. Während Corona kam noch fehlende Kinderbetreuung dazu.
Der medikamentöse Abbruch nimmt in Deutschland nur eine marginale Rolle ein, 2019 machte er gerade mal 25 Prozent der Abbrüche aus. Warum ist das so?
Alicia Baier: Es liegt nicht an der fehlenden Nachfrage. Untersuchungen zeigen, dass 50 Prozent sich für einen medikamentösen Abbruch entscheiden würden – wenn sie die Wahl hätten. Aber viele Ärzt*innen bieten das gar nicht an. Deutschland ist da im europäischen Vergleich weit abgeschlagen. Dabei könnte das im Gegensatz zu einem operativen Eingriff jede*r niedergelassene Ärzt*in machen.
Und warum tun sie das nicht?
Alicia Baier: Auch hier spielt die Stigmatisierung wieder eine Rolle: Man macht sich damit keinen guten Ruf innerhalb der ärztlichen Community, außerdem setzt man sich den Angriffen von Abtreibungsgegner*innen aus. Und man kommt damit in der Aus- und Weiterbildung kaum in Berührung. Viele Ärzt*innen wissen deswegen gar nicht, wie genau so ein medikamentöser Abbruch funktioniert. Wir Doctors for Choice haben deswegen gerade Online-Weiterbildungen dazu gestartet. Medikamentöse Abbrüche sollten selbstverständlicher Teil der Gesundheitsversorgung sein.
Ist es wirklich völlig unproblematisch, wenn der medikamentöse Abbruch zu Hause durchgeführt wird? Was, wenn etwas schiefgeht?
Alicia Baier: Die häufigste Komplikation ist eine übermäßige Blutung. Aber das bekommen die Patient*innen vorab ganz genau erklärt. Sie wissen, wie viele vollgeblutete Binden pro Stunde in Ordnung sind, und wohin sie sich wenden können, wenn es mehr ist. Aber nur in 0,1 Prozent der Fälle ist eine Weiterbehandlung im Krankenhaus nötig, eine Bluttransfusion sogar nur in 0,05 Prozent. Und es kann passieren, dass die Schwangerschaft trotz der Medikamente fortbesteht. Das ist mit 0,5 Prozent der Fälle aber immer noch sehr selten. In Deutschland wird deswegen zehn bis 14 Tage später eine Nachuntersuchung mit Ultraschall oder Schwangerschaftstest gemacht.
Wie ist das bei Women on Web? In Ländern, die Abbrüche verbieten, kann eine Betroffene ja nicht einfach ins Krankenhaus gehen und sagen: „Meine self-managed abortion ist schief gegangen.“
Sophie G.: Das Gute ist, dass ein medikamentöser Abbruch nicht nachweisbar ist. Der Ablauf ist der einer natürlichen Fehlgeburt. Das heißt, selbst in Ländern mit strengen Verboten können die Frauen ins Krankenhaus gehen und sagen, sie hätten Sorgen wegen Blutungen oder einer Fehlgeburt, und werden dann medizinisch versorgt. Die WHO erkennt unseren Weg mit der telemedizinische Begleitung als sicheren Schwangerschaftsabbruch an.
Alicia Baier: Für Deutschland ist es in meinen Augen aber keine Option, den Ultraschall wegzulassen. Wir haben hier genügend Ärzt*innen, die das machen. Der Ultraschall ist wichtig, um die Sicherheit zu erhöhen und zum Beispiel die Schwangerschaftswoche genau bestimmen zu können.
Sie würden also von einer Einnahme der Medikamente außerhalb der Praxis zumindest für Deutschland abraten?
Alicia Baier: Nein, gar nicht. Der Home Use – also, dass man die zweite Tablette zu Hause einnimmt - wird ja in Deutschland schon praktiziert. Ich denke sogar, dass der medikamentöse Abbruch unter telemedizinischer Begleitung – bei dem man beide Tabletten zu Hause einnimmt – für Deutschland interessant ist. Das gilt sowohl angesichts der Unterversorgung und künftiger Krisen wie Corona, aber eben auch mit Blick auf die Selbstbestimmung ungewollt Schwangerer. Diese sollten die Möglichkeit haben, die Methode zu wählen, die am besten zu ihnen passt. Da gibt es aber auch Kontroversen bei Doctors for Choice, wir sind da noch in der internen Debatte. Andere Länder, zum Beispiel Großbritannien, haben während Corona die telemedizinische Begleitung ja bereits eingeführt. In Deutschland brauchen wir noch mehr Erfahrungen und Forschung in diesem Bereich.
Noch mal zurück zur Arbeit von Women on Web: Ist das letztlich nicht alles Symptombekämpfung? Es müsste doch eigentlich darum gehen, dass ungewollt Schwangere legalen Zugang haben, statt über das Internet bestellen zu müssen.
Sophie G.: Natürlich. Wir sind eine Schwesterorganisation von Women on Waves, die mit einem Schiff in Länder fahren, wo Abbrüche illegal sind. Dort holen sie die ungewollt Schwangeren ab und machen mit ihnen in internationalen Gewässern unter holländischer Flagge den Abbruch. Diese Methode hat viel Aufmerksamkeit auf das Thema und die jeweiligen Gesetzgebungen gelenkt, und mancherorts auch Änderungsprozesse beschleunigt, in Spanien und Portugal etwa. Aber mit einem einzigen Schiff kann man eben auch nur eingeschränkt etwas bewegen. Women on Web ist der Zwischenschritt: Denn auch während für Änderungen gekämpft wird, müssen wir dafür sorgen, dass ungewollt Schwangere Zugang zu sicheren Abtreibungen haben.
Also ist es vor allem Pragmatismus?
Sophie G.: Nein, es ist direkte Aktion. Self-managed Abortion gibt ungewollt Schwangeren die Autonomie, zu handeln, während gleichzeitig Studien gemacht und Debatten geführt werden.
Alicia Baier: Die Arbeit von Women on Web ist eine Kampfansage an all die Versuche, von staatlicher Seite über den Uterus zu bestimmen. Es ist Resistance: Wenn ihr es uns verbietet, uns den Zugang versperrt – dann machen wir es selber.